Stefanie Ruwe ist schon seit 2012 als Ehrenamtliche bei Anderland tätig. Es war das Jahr, in dem das Zentrum für trauernde Kinder in Osterholz-Scharmbeck eingerichtet wurde.
Osterholz-Scharmbeck. Stefanie Ruwes Anderland-Gruppe zählt zurzeit acht Kinder, für die sieben Betreuerinnen und Betreuer da sind. "Klingt ja erst einmal ganz gut, reicht aber nicht aus", befindet die 51-jährige Sparkassenangestellte. Das Zentrum für trauernde Kinder in Osterholz-Scharmbeck sucht daher dringend weitere ehrenamtliche Unterstützung. Und bietet am Wochenende des 18./19. Februar 2023, jeweils von 10 bis 17 Uhr, im Anderland, Findorffstraße 21, einen weiteren Ausbildungskursus an.
Für die trauernden Kinder werde eigentlich eine 1:1-Betreuung gebraucht, erklärt Stefanie Ruwe, dienstälteste Trauerbegleiterin in der Einrichtung, die 2012 als Fachdienst des Diakonischen Werks eingerichtet wurde. Also ist ihre Gruppe schon knapp unterbesetzt, wobei in dieser Rechnung Krankheiten oder anders begründete Ausfälle noch nicht einmal berücksichtigt sind.
Die Sechs- bis Zwölfjährigen in Stefanie Ruwes Gruppe – es ist eine von dreien, die sich im 14-Tage-Rhythmus im Anderland treffen – sollen für ein paar Stunden die ungeteilte Aufmerksamkeit einer erwachsenen Person geschenkt bekommen, die sie in ihrer veränderten Erlebniswelt - irgendwo zwischen psychischem Ausnahmezustand und den Routinen des Alltags – eher nicht genießen. Vater oder Mutter haben ja in der Regel dieselbe Person verloren wie das Kind und leben daher ebenfalls in Trauer. Mitunter müsse das trauernde Kind auch Pflichten des Verstorbenen übernehmen, berichten die Anderland-Mitarbeiter.
KEINE ANIMATION
Um zu beschreiben, was sie im Anderland eigentlich macht und ist, muss Stefanie Ruwe erklären, was sie alles nicht ist. Zum Beispiel Therapeutin, Ersatzmutter oder auch Animateurin. "Dafür sind wir nicht geeignet beziehungsweise ausgebildet. Wir begleiten die Kinder in der Trauer. Dabei wenden wir die Spiegeltechnik an, mit der wir ihnen signalisieren, dass wir sie verstehen und wertschätzen." Und darum sei auch die 1:1-Betreuung so wichtig.
Unter Spiegelung, auch Chamäleon-Effekt genannt, wird in der Psychotherapie verstanden, dass eine Person Gesten und Mimik ihres Gegenübers sozusagen übernimmt, was – vereinfachend gesagt – gegenseitiges Verständnis befördern und einen Zustand der Harmonie herbeiführen soll. Diese Methode der Kommunikation durch "Nachahmen" setzt ein gehöriges Maß an Einfühlungsvermögen voraus.
Stefanie Ruwe übernahm das Ehrenamt, als sie nach einer Ausbildung zur Sparkassenkauffrau und einem Studium zur Versicherungsfachwirtin schon einige Jahre mit beiden Beinen im Berufsleben stand. "Eigentlich wollte ich ins Hospiz, aber das war schwierig mit dem Job zu vereinbaren." So kam sie auf die Idee, sich der Kinder anzunehmen, die auf die eine oder andere Weise hilfsbedürftig sind, wie jene bei Anderland, die einen Elternteil, ein Geschwisterkind oder einen anderen Menschen verloren haben, der ihnen nahe stand. Selbst hat Stefanie Ruwe keine Kinder.
Wie sie sagt, schöpft sie Kraft aus dem Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun. "Der Tod ist ja unabänderlich, aber man kann Menschen dabei helfen, damit umzugehen." In den Anderland-Gruppen machen die jungen Hinterbliebenen die wenigstens etwas tröstliche Erfahrung, nicht ganz allein mit dem Erlebten dazustehen. In der Schule, im Kindergarten oder in der Nachbarschaft könnten sie vielleicht nur wenig bis überhaupt nicht über den erlittenen Schicksalsschlag reden. Tabus und Berührungsängste stehen dem entgegen. Es ist aber wichtig, dass die Trauer ausgelebt wird. Damit wird Komplikationen vorgebeugt. Mögliche Symptome wie körperliche Schmerzen, Essstörungen, innerer Rückzug und andere Verhaltensauffälligkeiten werden, wenn sie auftreten, in ihrer Ausprägung gemildert.
DER SINN VON RITUALEN
Stefanie Ruwe findet es schade, dass die Gesellschaften des sogenannten Westens den Tod aus ihrem Leben weitgehend verdrängt haben. Ganz im Gegensatz zu vielen anderen Kulturen. "Trauerkleidung, Brauchtum und Rituale rund um die Beerdigung – hat doch alles irgendeinen Sinn."
In den Trauergruppen wird viel geredet und herumgetollt. Geweint wird so gut wie nie, aber es wird den Gefühlen Raum gegeben. "Wir fangen damit an, dass über die verstorbenen Personen gesprochen wird." Es werden Fragen gestellt oder auch Bilder gemalt. "Schon das hat etwas Befreiendes." Danach folgt die ausgedehnte Phase, in der gelesen, musiziert oder getobt wird. Es gibt auch eine Werkstatt, einen Tischsandkasten, einen Bastelraum und einen Tischkicker. Da kommen auch die Ehrenamtlichen mitunter ganz schön aus der Puste. In der Abschlussrunde steht wieder der Verstorbene im Mittelpunkt. Es kann beispielsweise die Frage auftauchen, was er besonders gerne getan hat. "Oder auch, was das tollste Ereignis in seinem Leben war."
ERWACHSENE WERDEN MITBETREUT
Wichtig ist, dass ein Stockwerk tiefer die Angehörigen oder sonstige Begleitpersonen ebenfalls betreut werden. "Sie dürfen nicht nach oben, die Kinder aber jederzeit nach unten", erklärt Stefanie Ruwe. Kinder trauern anders als Erwachsene. Das Anfangsritual in der Gruppenstunde sieht vor, dass die Teilnehmer sich vorstellen. Sie müssen es aber keineswegs. Es darf beispielsweise geschildert werden, wer der Verstorbene war, wie er gestorben ist und wie die letzten 14 Tage seines Lebens verliefen.
Bevor die Kinder kommen, bereiten sich die Ehrenamtlichen zusammen mit Matthias Schmidt, Diplom-Pädagoge und Diakon, auf die Gruppenstunde vor. Gleich im Anschluss ans Treffen mit den Kindern kommen die Mitarbeiter zur Nachbesprechung zusammen. "Wenn da Fragen oder Probleme aufgetaucht sein sollten, müssen wir das nicht mit nach Hause tragen", erläutert Stefanie Ruwe. Manche Schicksale seien schon sehr hart, gibt sie zu. Doch sie hat damit umzugehen gelernt. Auch Therapeuten oder Ärzte könnten ja nicht arbeiten, ohne eine Balance zwischen Mitgefühl und Professionalität, zwischen Nähe und Distanz zu finden.