„Es gibt einen großen Bogen, der uns zusammenhält“

Pressemitteilung Stade, 03. Oktober 2024

Michaelis-Empfang in Stade mit Hasnain Kazim

In der vollbesetzten Stader St. Wilhadi-Kirche ging es um den gesellschaftlichen Zusammenhalt: Hasnain Kazim (li.) und Regionalbischof Dr. Hans Christian Brandy. Foto: Sonja Domröse

Stade. In der vollbesetzten St. Wilhadi-Kirche begrüßte Regionalbischof Dr. Hans Christian Brandy Gäste aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kirche. Rund 400 Menschen waren gekommen, um Hasnain Kazim zu hören, politischer Journalist und Autor zahlreicher Bücher. Kazim sprach über den Zusammenhalt im Land und seine Erfahrungen bei einer über 3.000 km langen Radtour quer durch Deutschland.

„Wir leben in einer pluralen Gesellschaft, deren Vielfältigkeit ich nicht missen möchte“, betonte Brandy zu Beginn des Empfangs. Aber die Pluralität sei auch anstrengend und so sähen sich manche Menschen als „Pluralitätsverlierer“. 
Eine demokratische Gesellschaft lebe davon, dass es zu geregelten gemeinsamen Entscheidungen komme. „Es wird gefährlich, wenn aus der Differenzierung und Pluralität unserer Gesellschaft, Polarisierung und Spaltung werden – und das beobachten wir derzeit.“ 
In vielen Gespräche begegne ihm die Aufgabe und der Anspruch an die Kirche, „Kitt der Gesellschaft“ zu sein. Kirche stehe zu dieser Verantwortung und es geschehe vieles in den Gemeinden vor Ort und in der Diakonie, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu gewährleisten. „Auch wenn wir eine kleiner werdende Kirche sind, werden wir uns nicht auf uns selbst zurückziehen“, so der leitende Geistliche für den Elbe-Weser-Raum. Werte wie Fairness, Empathie und Bescheidenheit hätten nach wie vor eine große Bedeutung für das ganze Land. „Und für diese Werte von Gerechtigkeit, Mitleid und Demut stehen wir auch als Kirche.“
 

Hasnain Kazim, aufgewachsen im Alten Land, war als Auslandskorrespondent u.a. in Islamabad und Istanbul tätig. Der 49-jährige plädierte in seinem Vortrag für „Maß und Mitte“ beim Suchen und Finden von klugen politischen Lösungen. „Alles andere frustriert Menschen und sie wählen dann extrem.“ Auf seiner Deutschlandtour habe er immer wieder das Gespräch gesucht, gerade auch mit AfD-Wählenden. Seine Erfahrung: Zuhören, jemanden nicht gleich abstellen, seine eigene Meinung erklären und versuchen, im Gespräch zu bleiben. Viele seien für die Demokratie wieder zurückzugewinnen.  „Es sei denn, jemand ist wirklich extremistisch eingestellt. Dann muss gestritten werden. Denn auch der Streit gehört zur Demokratie.“
 

Dabei verbinde die Menschen in Deutschland mehr als sie trenne. Dazu gehöre für ihn neben der Sprache auch die Kultur, die gemeinsame Geschichte, das Essen und die christliche Prägung. „Aber viele Menschen“, so seine Wahrnehmung, „haben keinen Bezug mehr zur Kirche.“ 
 

Sein Resümee: „Es gibt einen großen Bogen, der uns zusammenhält. Ich bleibe zuversichtlich, auch wenn die Zeiten rau sind.“
 

Musikalisch wurde der Empfang gestaltet durch Hauke Ramm (Kirchenmusikdirektor), das Bläserensemble „Blechschnitt“ unter Leitung von Landesposaunenwart Reinhard Gramm und der Band „water + wine“ aus Bremervörde (Leitung: Arne Suter).

Lesen Sie hier das epd- Interview mit Hasnain Kazim:

epd-Gespräch: Dieter Sell

 

epd: Herr Kazim, Sie sind an Flüssen entlang mit dem Rad durch Deutschland gefahren und haben darüber unter dem Titel „Deutschlandtour“ ein Buch geschrieben. Was war Ihr Ziel? Und warum mit dem Rad?

Hasnain Kazim: Ich wollte herausfinden, was Deutschland und die Menschen im Land eint. Dafür war ich mit Unterbrechungen ein Jahr unterwegs, entlang von Elbe, Ruhr, Rhein, Oder und Neiße, Neckar und Donau. Ich habe immer eine Tour gemacht und bin dann wieder mit dem Zug nach Hause nach Wien gefahren. Das Fahrrad habe ich genommen, weil es einen großen Vorteil hat: Man ist einerseits schnell genug, um Strecke zu machen. Und andererseits langsam genug, um mit Leuten ins Gespräch zu kommen - beispielsweise über die Frage, ob die Gesellschaft wirklich so gespalten ist, wie es so oft heißt. Und wie steht es um den Extremismus, um Rechtsruck, „Öko-Diktatur“ und „Klimafaschismus“?
 

epd: Was für einen Eindruck haben Sie gewonnen?

Kazim: Mit Blick auf die in Teilen rechtsextreme AfD sehen wir ja tatsächlich Wahlergebnisse von 30 Prozent und mehr. Es gibt einzelne Orte, durch die ich gefahren bin, da hat die AfD eine Zustimmung von 50 Prozent. Aber ich wollte nicht glauben, dass bis zu 50 Prozent der Menschen rechtsextrem sind.
 

epd: Und, sind sie es?

Kazim: Meine Hauptkritik halte ich aufrecht: Menschen, die diese Partei wählen, wählen damit Rechtsextremisten auf demokratischem Weg an die Macht. Ich bin mir aber nicht mehr so sicher, ob die Leute wissen, wen sie da wählen. In vielen Gesprächen habe ich gehört, dass sich Menschen damit nicht beschäftigt haben. Oder sie glauben nicht, dass die AfD rechtsextrem ist. Oder ihre Wut auf die anderen Parteien und ihr Frust darüber, wie Politik gemacht wird, ist größer als die Befürchtung, dass die AfD Schaden anrichten könnte. Ich habe Menschen getroffen, die Zukunftsängste haben. Mein Eindruck war, dass man mit ihnen reden kann und dass es sich auch lohnt, zu reden, weil ich glaube, dass man sie wieder für das Demokratische gewinnen kann.
 

epd: Sie rufen im Zusammenhang mit den dafür notwendigen gesellschaftlichen Debatten dazu auf, Maß und Mitte zu halten. Was heißt das für Sie?

Kazim: Das heißt für mich grundsätzlich, alle Seiten zu hören und nicht jemanden, der eine andere Meinung hat, sofort als Feind zu sehen - abgesehen natürlich von Extremisten. Die Demokratie hat einen weit gefassten Rahmen, von links bis rechts. Das sollte man sich alles anhören. Um kluge Lösungen zu finden, brauchen wir Maß und Mitte. Beispiel Migration: Die einen fordern, alle Grenzen abzuschaffen, die anderen wollen niemanden mehr reinlassen. Wenn da nicht eine Politik mit Maß und Mitte gemacht wird, frustriert das Menschen und sie wählen extrem.
 

epd: Woher kommt denn konkret der politische Frust, was haben Sie in Ihren Gesprächen erfahren?

Kazim: Da kam oft, Politik und Medien verbreiteten eine ideologisch getriebene großstädtische, meist auch hauptstädtische und akademische Sicht auf die Dinge. Das betreffe nicht ihre Lebensrealität. Als Beispiele wurden unter anderem das Gendern und die Art und Weise der Klimaproteste genannt. Themen wie die Arztversorgung auf dem Land, die Anbindung durch den öffentlichen Personennahverkehr oder auch fehlender leistbarer Wohnraum seien dagegen unterbelichtet, die Kritik habe ich immer wieder gehört.
 

epd: Haben Sie sich vor dem Hintergrund all dieser Konflikte auf Ihrer Reise irgendwo unwohl gefühlt?

Kazim: Ganz eindeutig: Nein. Das ist für mich eine große Überraschung, denn damit habe ich gerechnet. Ich mache mir keine Illusionen: Es gibt rechtsextreme Strukturen und es kann sicherlich sehr unangenehm werden, wenn man als fremd wahrgenommen wird. Aber ich hatte auf meinen 3.000 Kilometern zum Glück keine negativen Erlebnisse.
 

epd: Sie haben auf Ihrer Tour ja nach dem gesucht, was das Land zusammenhält. Was haben Sie gefunden?

Kazim: Das hat für mich viel mit dem Begriff der Leitkultur zu tun, der politisch leider missbraucht wurde und dann etwas Ausgrenzendes hat. Was uns eint, lässt sich nicht mit einem Wort benennen. Ich sehe fünf Punkte: Es ist unsere Sprache, unsere Kultur in all ihren Facetten, unsere Geschichte, unsere vielfältige Küche und die Religion, das Christentum, das allerdings eine immer kleinere Rolle spielt.
 

epd: Sie erwähnen die Sprache als erste Säule. Aber gerade Sprache spaltet, besonders wenn sie benutzt wird für Hassbotschaften und Anfeindungen...

Kazim: Das stimmt, das ist immer eine Gratwanderung. In einer Demokratie gehört Streit dazu - mit Argumenten, um am Ende eine Lösung zu finden, einen Kompromiss. Viele Menschen glauben heute, nur wenn sie ihren Willen zu 100 Prozent durchsetzen, wäre das eine Lösung, alles andere wäre nicht gut. Das Gegenteil gilt. In einer Demokratie ist der Kompromiss das Normale. Wir müssen viel mehr auf unsere Sprache achten und uns im Klaren darüber sein, dass Sprache auch eine Waffe sein kann. Es kann verletzen, wie wir sprechen, was wir sagen. Es gibt aber auch kein Recht auf Freiheit vor Widerspruch. Man kann alles sagen, muss dann aber auch damit rechnen, dass man kritisiert wird.
 

epd: Gibt es ein Resümee ihrer Tour?

Kazim: Ich habe herausgefunden: Ja, es gibt einen Bogen, der uns zusammenhält. Der ist sehr groß und da passt viel drunter, manches definitiv auch nicht. Die Vielfalt macht dieses Land schön. Was ich auch beantwortet bekommen habe: Mit den meisten Menschen kann man sehr gut reden, von Angesicht zu Angesicht. Das passiert nur zu selten. Ich glaube, wir müssen wieder viel mehr und konstruktiv miteinander reden. Dann können wir viele Dinge lösen. Man muss sich eben auch andere Meinungen anhören, nicht nur aushalten, sich fragen: Ist die eigene Position noch richtig oder nicht? Und sie dann möglicherweise ändern.